Zwei Engel nehmen die kleine Olenka mit
Aus „Tschernobyl – Eine Chronik der Zukunft“
von Swetlana Alexijewitsch
Irina Kisseljowa, Journalistin:
»Hat Ihnen jemand erzählt, daß es streng verboten war, am Reaktor zu fotografieren? Nur mit einer Sondergenehmigung war es möglich. Sonst wurden die Fotoapparate abgenommen. Vor der Entlassung wurden Soldaten, die dort gedient hatten, wie in Afghanistan durchsucht, damit um Gottes willen keine Fotos rausgingen. Kein Beweismaterial. Fernsehleuten wurden im KGB die Filme abgenommen und belichtet wieder ausgehändigt. Wie viele Dokumente auf diese Weise vernichtet wurden! Zeugnisse. Sie sind für die Wissenschaft verloren. Und für die Geschichte. Die das angeordnet haben, müßte man ausfindig machen! ... Was würden die sich heute dazu ausdenken? Was würden sie zu ihrer Rechtfertigung sagen?
Ich werde sie nie von ihrer Schuld freisprechen... Nie! Schon allein nicht wegen des kleinen Mädchens ... Sie tanzte im Krankenhaus ... Sie tanzte Polka ... Sie war neun Jahre alt. Sie hat so schön getanzt ... Zwei Monate später rief mich ihre Mutter an. „Olenka stirbt mir!“ Ich hatte an dem Tag nicht die Kraft, ins Krankenhaus zu gehen. Und dann war es zu spät. Olenka hatte eine kleine Schwester. Eines Morgens wachte sie auf und sagte: „Mama, ich hab geträumt, daß zwei Engel angeflogen kamen und unsere Olenka mitgenommen haben. Sie haben gesagt, daß Olenka es dort gut haben wird. Daß ihr nichts mehr weh tun wird. Mama, zwei Engel haben unsere Olenka mitgenommen ...“«
Tschernobyl – Eine Chronik der Zukunft
Swetlana Alexijewitsch
Seite 255
Piper Verlag GmbH, München/Berlin
3. Auflage November 2015
ISBN 978-3-492-30625-6